Umfrage zur finanziellen Lage: Wohlfahrtsverbände warnen vor Zusammenbruch sozialer Infrastruktur

, Magdeburg/Berlin

Viele soziale Angebote drohen vollständig wegzubrechen, da gestiegene Kosten finanziell nicht ausreichend kompensiert werden können. Trotz steigender Nachfrage mussten vielerorts bereits Angebote und Hilfen eingeschränkt, reduziert oder sogar ganz eingestellt werden.

Darüber hinaus drohen kurzfristig weitere Kürzungen ihrer Einnahmen. Das sind die erschütternden Befunde einer bundesweiten Umfrage von Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Diakonie Deutschland und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, an der sich mehr als 2.700 gemeinnützige Organisationen und Einrichtungen aus dem gesamten Spektrum sozialer Arbeit beteiligten. Die Wohlfahrtsverbände warnen, dass sich hier eine Katastrophe für die soziale Infrastruktur anbahne und fordern den Bund auf, von angekündigten Haushaltskürzungen Abstand zu nehmen. Was es jetzt brauche, seien zudem eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern und Kommunen sowie einen ambitionierten steuer- und finanzpolitischen Kurswechsel.

Insgesamt verzeichnen die befragten Einrichtungen eine Kostensteigerung um durchschnittlich 16 Prozent seit Anfang 2022. Die Ergebnisse belegen, dass in der Praxis kaum ein Weg unversucht bleibt, aus eigenen Kräften die schwierige finanzielle Lage zu bewältigen. Fast jede dritte befragte Einrichtung musste zur Kompensation sogar Personal abbauen bzw. plant Entlassungen. Auch die Möglichkeit, Kostensteigerungen durch höhere Beiträge für Nutzer*innen auszugleichen, scheint weitgehend ausgereizt und führt bereits zu ersten Verwerfungen. Laut der Problemanzeigen aus der Praxis können sich viele, die besonders auf Unterstützung angewiesen sind, Angebote inzwischen nicht mehr leisten, und in der Praxis komme es zu Unterversorgungslagen und neuen Ausschlüssen.

Im Ergebnis bedeutet das sowohl quantitative als auch qualitative Einschränkungen zu Lasten der sozialen Infrastruktur. Sollte hier nicht entschlossen gegengesteuert werden, hätte dies “enorme Konsequenzen für unser Gemeinwesen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und all jene Menschen, die in schwieriger Lebenslage auf Hilfe, Beratung, Unterstützung und einen stabilen Sozialstaat angewiesen sind”, warnen die Wohlfahrtsverbände.

Laut Umfrage mussten allein in Sachsen-Anhalt bereits 34,5 Prozent der befragten Organisationen und Einrichtungen Angebote und Leistungen für Klient*innen aus finanziellen Gründen einschränken oder ganz einstellen. 61 Prozent der Befragten aus Sachsen-Anhalt gehen davon aus, kurzfristig Angebote und Leistungen weiter reduzieren zu müssen.

Hendrik Hahndorf, Vorstandsvorsitzender des AWO Landesverbandes Sachsen-Anhalt e.V.


„Sollte neben der fehlenden Kompensation der Kostensteigerungen zudem die vom Bund angekündigten Haushaltskürzungen greifen, werden für die Menschen in Sachsen-Anhalt spürbare Einschnitte in den sozialen Angeboten folgen. Bei den Freiwilligendiensten ist ein Drittel aller Plätze in Gefahr. Damit wird rund 600 jungen Menschen im Land die Chance auf Berufsorientierung, Kompetenzerwerb und gesellschaftliches Engagement verwehrt.

Im Bereich der Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte bedeuten die geplanten Kürzungen den dramatischen Wegfall von mehr als 30% der Beratungskapazitäten in Sachsen-Anhalt. Im Jahr 2022 wurden in den Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände rund 11.000 Personen beraten und unterstützt. Die Kürzung würde eine Absenkung von derzeit 34 Mitarbeitenden auf 23 bedeuten. Ein ähnliches Bild zeig sich in den Jugendmigrationsdiensten. Das hat folgenschwere Auswirkungen nicht nur für die Ratsuchenden, sondern ebenso für die Tätigkeit der Behörden sowie der Unternehmen vor Ort und das gesamte Gemeinwesen. Dabei sind die Zahlen zugewanderter Menschen weiterhin hoch und mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht und dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz stehen neue Aufgaben an. Dass die Mittel für Integrationsstrukturen gekürzt werden, ist absurd. Gerade jetzt müssen wir in Dienste und Einrichtungen investieren, die den Zusammenhalt stärken und Menschen aktiv beteiligen.
Deshalb protestieren wir am 8. November in Berlin gemeinsam mit unseren Kolleg*innen von der ZWST, Caritas, Diakonie und dem DRK und fordern von der Bundesregierung: Stoppen Sie die Sozialkürzungen!

Die teilstandardisierte Online-Umfrage fand im Zeitraum vom 29. September bis zum 10. Oktober 2023 statt. Der Rücklauf von 2772 validen Fragebögen war trotz der Kurzfristigkeit groß. Insgesamt sind in den teilnehmenden Organisationen/Einrichtungen mehr als 261.721 Menschen beschäftigt. Im Tagesdurchschnitt werden durch die befragten Organisationen/Einrichtungen insgesamt rund 377.112 Menschen beraten, betreut oder versorgt. Aus Sachsen-Anhalt nahmen 61 Organisationen an der Umfrage teil.

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